Backstage

Essay

Die gefühlte Welt: John Neumeier, Ein Münchner Portrait

von Anna Beke

„John ist wie ein Katalysator. Mein Werdegang, nicht nur als Tänzer, hat viel, hat alles mit ihm zu tun. 1977 sind wir uns begegnet. Seitdem war es ein Entdecken seiner Welt von Ideen, Bewegungen, Kämpfen und Idealen – im Ballettsaal, auf der Bühne und unterwegs.“ – Ivan Liška

Unterwegs am selben Ort oder auf der ganzen Welt. John Neumeier muss keine Kilometer zurücklegen, um sich mit seinen Tänzern des Hamburg Balletts auf Reise zu begeben, um mit ihnen beständig auf Reise und Suche zu sein. Seit über einem halben Jahrhundert ist der Meisterchoreograf (*1939 Milwaukee, USA) künstlerisch weltweit beheimatet und verehrt, doch über all die Jahre hinweg hält er seiner Kompanie seit 1973 als Ballettdirektor und Chefchoreograf die Treue – einer Kompanie, die wirklich so ganz die ‚seine‘ ist, von ihm aufgebaut, umkämpft, geliebt. Seit Marius Petipa war kein anderer Choreograf in der Ballettgeschichte einer Kompanie so lange und intensiv verbunden wie er. Ja, kein anderer Choreograf wurde so sehr zum künstlerischen Aushängeschild des Balletts in Deutschland wie Ballettintendant John Neumeier. Als Zeichen der Wertschätzung seiner großen Verdienste hierzulande wurde dem Wahl-Hamburger in den Jahren 1988 und 2008 daher auch als bislang einzigem Tanzschaffenden zweimal der Deutsche Tanzpreis verliehen. Doch dies sind nur ein paar von vielen Superlativen, wenn es um den Ausnahmekünstler John Neumeier geht. 

Heimat an der Isar

So stark scheint Neumeier mit dem Hamburg Ballett und dem Aufbau dessen einzigartiger Identität verbunden, dass man hierüber beinahe vergisst, wie vielen anderen Kompanien – anders etwa als George Balanchine mit dem New York City Ballet – er Kreationen überlassen oder gemeinsam mit diesen errungen hatte: Eine davon ist das Bayerische Staatsballett, das die Handvoll Ballette Neumeiers aus dessen gewaltigem Oeuvre von über 170 Werken so stolz im Repertoire präsentiert, als handele es sich um Kronjuwelen. Als „Stammrepertoire“ und „unabdingbare Werke“ bezeichnet der Künstlerische Leiter des Bayerischen Junior Balletts München Ivan Liška diese Ballettschöpfungen, die ebenso fest zu München gehören wie die drei sakrosankten Meisterwerke John Crankos als künstlerische Aushängeschilder der Kompanie. Schon Konstanze Vernon äußerte einst euphorisch: „Soll ich mit […] der Freude beginnen, die ich noch heute darüber empfinde, dass John den Jahren meiner Ballettdirektion zu so besonderem Glanz verhalf, indem er ‚meiner Kompanie‘ zwei seiner wirklich schönsten Ballette überließ: »Ein Sommernachtstraum« und »Die Kameliendame«? Geschenke, die unseren Tänzern die herausforderndsten Rollen bescherten und dem Publikum Abende, die man nicht vergisst?“ 

Doch bereits vor der Ära Vernons wurde Neumeier mit Begeisterung in München getanzt: Nachdem Ballettdirektor Roland Hynd Neumeiers erste Version des »Nussknackers« von 1971 noch in Frankfurt gesehen hatte, wollte er diesen unbedingt auch nach München holen. Von daher brachte er den jungen amerikanischen Choreografen dazu, eine überarbeitete Fassung für die bayerische Landeshauptstadt zu realisieren – mit neuem Kostüm- und Bühnenbild von Jürgen Rose und einem eigens für Vernon kreierten ‚Stangen-Pas-de-deux‘ – fortan Herzstück des Balletts. Am 8. Mai 1973 wurde die Premiere der Neueinstudierung beim Ballett der Bayerischen Staatsoper gefeiert. Zwei weitere Neumeier-Ballette, die dann unter Liška das Repertoire des Bayerischen Staatsballetts ergänzten, waren die beiden Klassiker-Neuschöpfungen »A Cinderella Story« (Erstaufführung Bayerisches Staatsballett, 4. April 2000) sowie »Illusionen – wie Schwanensee« (Premiere Bayerisches Staatsballett, 21. April 2011); wobei Liška den diesbezüglich letzten Zugewinn als wirkliche „Heimkehr“ bezeichnet. Stellt dieses Ballett doch eine biografische Annäherung an die historische Gestalt des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II. dar, den Neumeier mit der Kunstfigur Siegfried verschmilzt, womit er ihm zu reellerem Bühnendasein verhilft und dem Publikum eine Identifikationsfigur schenkt. Der Prinz wird zum Menschen, was dem Kerngedanken seines choreografischen Schaffens folgt: „Ich muss an den Menschen glauben, muss ihn lieben können, um zu choreografieren“, konstatierte Neumeier, dem es in all seinen Stücken immer um den essentiell humanistischen Gehalt und Wert geht – so vielfältig seine Werke und choreografischen Lesarten auch sein mögen. Liška ergänzt: „Am prägnantesten ist die nicht ausgesprochene Kraft, die Welt zu verbessern und humanistisch zu gestalten. Das merken die Menschen, die ein Ballett von John Neumeier anschauen, vielleicht nicht gleich während der Vorstellung, aber es klingt immer nach.“

Neben den fünf zum Münchner Stammrepertoire zählenden Balletten führte Neumeier, der sich stets in direktem Austausch zur Dramaturgie des Musik- und Sprechtheaters sah, auch Regie bei der Giuseppe Verdi-Oper »Otello« an der Bayerischen Staatsoper (31. Oktober 1977). Auch dieses einmalige Opernereignis sei stellvertretend für die vielen fruchtbaren künstlerischen Kooperationen Neumeiers mit Jürgen Rose genannt, dem der Choreograf die Ausstattung seiner schönsten und in vielerlei Hinsicht vielleicht wichtigsten Werke verdankt – einige davon fest im Münchner Ballettrepertoire verankert. 

John Neumeier und Ivan Liška.
Zwei Jahrzehnte gemeinsamen Suchens

Genau zehn Jahre nach seinem Engagement beim Stuttgarter Ballett – ab 1963 – hatte Neumeier die Leitung des Frankfurter Balletts (1969-1973) beendet, um dem Ruf August Everdings in den Norden zu folgen und in Hamburg sein Lebenswerk aufzubauen. Nur drei Jahre nach Direktionsbeginn kam es zur Begegnung mit Ivan Liška, der bei der Münchner Premiere von Peter Wrights »Dornröschen« im Jahr 1976 mitgewirkt hatte und Neumeier vom Zuschauerraum aus aufgefallen war. Ihm und dessen schon Fast-Ehefrau Colleen Scott stellte der Hamburger Ballettchef ein Engagement zur Aussicht, dem die beiden Bühnenkünstler folgten, denn „das war es, was wir suchten: In einem Ensemble zu sein, wo Neues geschaffen wird.“ Und so pendelte Liška bald regelmäßig zwischen Isar und Elbe, um gemeinsam mit John Neumeier zunächst dem Lysander aus »Ein Sommernachtstraum« Leben einzuhauchen: „Eine Kreation hat vorausgesetzt, dass Tänzer und Choreograf gemeinsam schaffen und kreieren – und das ist das, was absolut fruchtbar ist. Man steht im Ballettsaal, da ist Musik, und dort sind dann nicht zwei Körper oder zwei Menschen, sondern da ist vor allem eine Idee, von der wir uns verführen lassen.“ 

Der von Liška verkörperte Gärtner sollte zu einer seiner Paraderollen werden, und der »Sommernachtstraum« zu einem der 53 Ballette, die er in den nächsten zwei Jahrzehnten – von 1977 bis 1998 – als Erster Solist in Hamburg tanzte. Ein weiterer Höhepunkt dieser Zeit wurde die preisgekrönte Verfilmung von »Die Kameliendame«, in welcher Liška den ungestümen Armand an der Seite Marcia Haydées 1986 interpretierte. Auch die Titelfigur aus »Odyssee« zählt zu den Partien, die Liška kreiert und bei der Uraufführung 1995 getanzt hatte: „Beim ersten Solo steht Odysseus symptomatisch in einer Position, so wie dorische Statuen sind. Es gibt keine Bewegung in der Figur. Und diese statische Form galt es zum Leben zu erwecken – das war eine wirkliche Suche. Ein Tänzer soll tanzen, aber dieses Monument Odysseus stand. Als sich die ersten Anfangsbewegungen ergaben, dachte ich, die Rolle sei gemeinsam erschaffen. Aber vermutlich handelte es sich hier ebenso um eine Gabe des Choreografen, die Aufgabe so zu stellen, dass man annimmt, man käme selber drauf. Denn dann ist die Genugtuung in der schöpferischen Partnerschaft fließend.“ Anlässlich seines 85. Geburtstags am 24. Februar bereitete sich Neumeier mit »Odyssee« selbst ein großes Geschenk und brachte sein fast 30 Jahre altes Werk als letzte Wiederaufnahme seiner 51. Amtszeit auf die Bühne der Hamburgischen Staatsoper zurück – ein Ballett, das besonders in dieser Zeit bedeutungsschwer und hochaktuell wirkt. 

Sollte sich Ivan Liška für eine der Vielzahl an Rollen entscheiden, die ihm Neumeier anvertraut hatte, käme er ins Straucheln: „Es ist wirklich schwierig, der Lysander verbreitet bestimmte Frequenzen, der Peer Gynt ist ein Typ, der Armand oder Odysseus sind andere, ebenso die namenlosen Helden der „Mahler-Sinfonien“. Da ist alles drin, was man sich unter ‚Lieb und Leid und Welt und Traum‘ vorstellen kann, und ich möchte keinen dieser Charaktere oder Farben missen. Ja, es war eine herausfordernde Zeit in Hamburg und so arbeiteten wir. Aber wozu soll es auch nicht anspruchsvoll sein?“ 

Das Bayerische Junior Ballett München tanzt die »Bach-Suite 3« (1981)

Die Messlatte lieber zu hoch ansetzen, ist ein Credo, das Liška auch für seine jungen Künstler des Bayerischen Junior Balletts München als zentral erachtet: „Ich weiß nicht, in welche Kompanien sie gehen werden, aber wir alle haben als Johns Tänzer Musikalität, Erfindungsgabe oder Formenreichtum in der Bewegung erfahren, und ich weiß, was das für eine positive Aneignung ist, so etwas behält man sein ganzes Leben im Körper.“ Nach Werken von Jiří Kylián, Hans van Manen, Richard Siegal oder anderen präsentieren die Nachwuchstänzer bei der Frühlingsmatinee zum ersten Mal eine Arbeit John Neumeiers, als Hommage Ivan Liškas an seinen eigenen ehemaligen Mentor und Leiter, der mit Ablauf dieser „Epilog“ genannten verlängerten Spielzeit sein Direktionsamt niederlegen wird. 

Die gezeigte »Bach-Suite 3« zur musikalischen Komposition Suite Nr. 3 in D-Dur (BWV 1068) stellt in zweifacher Hinsicht eine Rarität dar: Einerseits handelt es sich bei dem Vorgängerwerk »Bach-Suite 2« (Uraufführung 18. Mai 1980) um das einzige Stück, das Neumeier originär für das Bayerische Staatsballett kreiert hat, und andererseits ist das Münchner Publikum selbst kaum mit der Vielzahl an choreografischen Miniaturen des so vielschichtigen enzyklopädischen Oeuvres Neumeiers bekannt. Denn mit Ausnahme des Ballettabends „Portrait John Neumeier“ (Premiere Bayerisches Staatsballett, 23. März 2003), der drei kürzere Werke Neumeiers zeigte (»Dämmern« / Alexander Skrjabin, Uraufführung 3. Mai 1972 Frankfurter Ballett; »In the Blue Garden« / Maurice Ravel, Uraufführung 16. Januar 1994 Hamburg Ballett; »Jupiter-Sinfonie« / Wolfgang Amadeus Mozart, Uraufführung 19. April 1991 Hamburg Ballett) beinhaltet das Münchner Repertoire nur dessen abendfüllende narrative Neuschöpfungen von Ballettklassikern bzw. Literaturadaptionen. Und tatsächlich wird Neumeier gerne in erster Linie als Meister der ‚großen Form‘ verehrt: „[Es] reizt mich, neue große Ballette für ein ganzes Ensemble zu choreografieren, um für eine große Kompanie ein modernes, spielbares Repertoire zu schaffen.“ Ein Ballettrepertoire jedoch, welches das Spannungsfeld von Tradition und Innovation aufrechterhält wie auch nach zeitgenössischen Strukturen einer jahrhundertealten Kunstform sucht. Allerdings ist Narration keineswegs auf die ‚große Form‘ beschränkt: „Emotion, Situation, Beziehungen – Ballett war für mich immer Drama“, erklärt Neumeier. In all seinen Balletten – narrativ, sinfonisch, abstrakt, sakral – leuchten überdies immer Neumeiers tiefes humanistisches Verständnis und seine Faszination für die menschliche Seele hervor: „John ist für mich ein choreografierender Psychoanalytiker, der sogar hinter die gefühlten Welten der Figuren eindringt. Deswegen sind seine Bühnenkonstellationen oft so herzzerreißend und berührend, weil sie etwas darstellen, was man sich vielleicht im eigenen Leben nicht traut. Das ist das Geheimnis des Theaters.“ 

Das für zehn Tänzer konzipierte Ballett »Bach-Suite 3« besticht als ‚Kleinod‘ ebenfalls durch schönste Formgebung und klare Linienhaltung in seiner dem neoklassischen Ballett verpflichteten Bewegungssprache und erzählt sehr vieles, ohne zu ‚erzählen‘. Darüber hinaus darf auch dieses Werk als Reverenz Neumeiers an den von ihm tief verehrten Johann Sebastian Bach verstanden werden, mit dessen Werken sich der Hamburger Ballettchef gerade zur Zeit der Entstehung des Stücks intensiv auseinandersetzte: in der parallel kreierten »Matthäus-Passion« (1980/81), als Auftakt seiner spirituell-sakralen Werke, in »Vaslav« – als Hommage an Lieblingstänzer Vaslav Nijinsky (1979) – und »Magnificat« (1987) wie auch in späteren Jahren im »Weihnachtsoratorium I-VI« (2007/2013) und zuletzt in »Dona Nobis Pacem« zur h-Moll-Messe (2022). Dass es nun an der Zeit war, die Junioren nicht nur mit der Musiksprache Bachs, sondern auch der Bewegungssprache Neumeiers in Berührung zu bringen, die ihn selbst künstlerisch entschieden geprägt und geformt hatte, stand für Ivan Liška letztlich außer Frage. „Sie alle müssen die Begegnung mit Neumeier in ihrem eigenen Körper erlebt und erfahren haben.“

Schließende Kreise

Mit der Übergabe der »Bach-Suite 3« an das Bayerische Junior Ballett München als Hommage an den scheidenden Hamburger Ballettdirektor schließt sich für Ivan Liška ein weiterer Lebenskreis, der mit der Person Neumeier zusammenhängt: Hatte er einst als blutjunger Tänzer das Ballett der Bayerischen Staatsoper für sein Engagement in Hamburg 1977‚verlassen‘, so hat er sich selbst 2016 – rund 40 Jahre später – mit Neumeiers Gipfelwerk »Illusionen – wie Schwanensee« von seiner Kompanie des Bayerischen Staatsballett als Leiter verabschiedet. Auf die Frage, ob dies Zufall gewesen sei, erwidert Liška schmunzelnd: „Natürlich, das stand in den Sternen. Punkt. Ich meine, solche Sachen kommen nicht von ungefähr, nein, und sogar wenn es Zufall ist, dann ist es doch von jemandem gewollt.“

Der Zeit des Hamburg Balletts ‚nach‘ John Neumeier schaut Ivan Liška mit Spannung und Erwartung entgegen, er selbst aber blickt mit Dankbarkeit und Demut auf die so prägenden zwei Jahrzehnte gemeinsamer Arbeit und die bis heute anhaltende Verbundenheit mit John Neumeier zurück: „Selbst, wenn wir viel gesprochen haben, noch mehr haben wir doch in der Bewegung gesucht – und gefunden. Und das wünsche ich auch den jungen Tänzern. Denn nach der Ebene der Schwierigkeit kommt die Ebene der Leichtigkeit, die sie erreichen werden, für ihre Zukunft, und in jedem Fall für die Vorstellung.“ 

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